24. Januar 2013 Wenn sich Wissenschaft dem Alltag stellt



Am Exzellenzcluster „Ozean der Zukunft“ forscht ein interdisziplinäres Expertenteam zum nachhaltigen Fischereimanagement. Vor allem die Politik hat Interesse an den Erkenntnissen.

 

Die Ressourcenökonomen sitzen im dritten Stockwerk eines Hochhaus der Christian-Albrechts-Universität, mitten in der Innenstadt von Kiel. Die Meeresbiologen vom GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel genießen, in sieben Kilometern Entfernung, den Blick auf die Kieler Förde und die vorbeischippernden Ostseefähren. Und die Wissenschaftler des Instituts für Weltwirtschaft? Die arbeiten gleich ums Eck vom GEOMAR, ebenfalls an der Kieler Förde, nur einen Kilometer die Straße aufwärts.

Wer am interdisziplinären Exzellenzcluster „Ozean der Zukunft“ in Kiel forscht, der muss mobil sein. Mehrmals die Woche pendeln die Wissenschaftler zwischen den verschiedenen Standorten hin und her, halten Vorlesungen, diskutieren Studienhypothesen. Gleich vier Fahrräder stellt der Cluster daher den Mitarbeitern zur Verfügung. So pendelt es sich schneller. Und Spaß macht es auch.

Wohl kein anderer Forschungsverbund in Deutschland, wenn nicht gar in Europa, hält so viel Expertise parat zum Thema Fischerei wie der Cluster in Kiel. Seit dem Jahr 2006 gibt es hier das Exzellenzcluster „Ozean der Zukunft“.  Im Sommer 2012 erhielt der Standort die Zusage über eine Anschlussfinanzierung für weitere fünf Jahre. Der Cluster vereint das Fachwissen von gleich vier Institutionen: der Christian-Albrechts-Universität, dem Geomar-Forschungsinstitut, dem Institut für Weltwirtschaft und der Muthesius Kunsthochschule.

Einer der Cluster-Schwerpunkte ist der Themenbereich „Lebende Ressourcen – Fischereimanagement“. 18 Wissenschaftler, darunter Professoren, Postdocs und Doktoranden, arbeiten hier zusammen. Kiel setzt vor allem auf Internationalität: Vorlesungen und Seminare werden hauptsächlich auf Englisch gehalten, jeder fünfte Mitarbeiter hat einen ausländischen Hintergrund. Langfristig soll sogar jeder Dritte Wissenschaftler aus dem Ausland nach Kiel kommen. Gezielt will der Cluster zukünftig die Kooperation mit der Columbia Universität in New York und der Dalhousie Universität in Halifax/Kanada ausbauen. Mit gesundem Selbstbewusstsein zählt Cluster-Sprecher Martin Visbeck, Professor für Physikalische Ozeanographie am GEOMAR, Kiel inzwischen zu den zehn wichtigsten meereswissenschaftlichen Standorten weltweit.

Nun könnte man sagen: Das Thema Fischereiwirtschaft ist ein Spartenthema. Entsprechend einfach spielt Kiel in der Topliga mit. Aber hier an der Ostsee machen sie tatsächlich vieles anders als andere Universitäten. Das sorgt für Erfolg, wissenschaftliches Renommee und politische Relevanz.

Mindestens vier Disziplinen beschäftigten sich mit der Fischerei: Ökonomie, Biologie, Jura und Geographie. Ressourcenökonomen treffen auf Meeresbiologen, Umweltethiker auf Betriebswirtschaftler. Zusammen erstellen sie Studien, die am Ende in internationalen Fachzeitschriften publiziert werden.

Von einer „wunderbaren Zusammenarbeit“ schwärmt etwa Meeresbiologe Rainer Froese. Er ist ein Urgestein der Kieler Meeresforschung, schon seit Jahrzehnten am Geomar in Kiel. Unter anderem hat er ist Fishbase initiiert, die größte biologische Fischdatenbank der Welt.

Mit der Gründung des Exzellenzclusters hat sich Froeses Blick geweitet: zu den biologischen Ansätzen für eine nachhaltige Fischerei kommen nun auch ökonomische und rechtliche.

Mit seinem Kollegen, dem Ressourcenökonom Martin Quaas von der Christian-Albrechts-Universität, hat er etwa kürzlich ein Konzept erstellt, das den Grad der Überfischung nicht nur biologisch, sondern auch ökonomisch bewertet. Schattenzinssatz nennen die beiden diesen Indikator, der bislang in ihren Fachbereichen keine große Rolle spielte. Statt sich nur auf biologisch relevante Größen wie Bestandsdichte und Sterblichkeit zu konzentrieren, fließen nun auch ökonomische Faktoren in die Bewertung überfischter Beständen ein. Professor Quaas und Biologe Froese zeigen: Fischer können beachtliche Erträge in Zukunft generieren, wenn sie – was smart wäre – schon heute die Fangquote absenken würden.

Die Kieler Wissenschaftler integrieren inzwischen auch die juristischen Aspekte in die Meereswissenschaften, eine wirkliche Besonderheit, schaut man sich die internationale Forschungslandschaft an. In einer jüngst veröffentlichten Studie analysieren etwa Meeresbiologe Froese und Jurist Alexander Proelß, welche rechtlichen Konsequenzen einer gemeinnützigen internationalen Organisation drohen, wenn sie ein Ökosiegel an ein Fischereiunternehmen vergibt, das aber gar nicht nach den international festgelegten Kriterien handelt. Die Studie ist für jeden Konsumenten relevant, der sich ratlos über die Kühltheke im Supermarkt beugt: Sie untersucht die Glaubwürdigkeit von Ökosiegeln wie dem Marine Stewardship Council und Friends of the Sea.

Es sind solche Analysen, die für einen Durchbruch und schlagartig große Medienaufmerksamkeit gesorgt haben. Politik, Wirtschaft und Nicht-Regierungsorganisationen lassen sich von den Kieler Experten beraten. Ressourcenökonom Quaas ist oft in Berlin zu Gast und informiert deutsche Bundestagsabgeordnete in Fischereifragen. Meeresbiologie Froese wird regelmäßig nach Brüssel eingeladen, wo zurzeit die EU-Kommission ihre Fischereipolitik überarbeitet. 

Gerade dort ist wissenschaftlicher Rat gefragt. Welche Folgen hat etwa das Setzen einer bestimmten Fangquote auf den Bestand (Biologie), auf die Kosten der Fischerei (Volkswirtschaft) und auf regionale Wirtschaft (Sozialwissenschaften)? Aktuell untersucht etwa Evolutionsbiologe Thorsten Reusch zusammen mit Ökonom Quaas die ökonomischen Folgen aus Sicht der Genetik. Der Genpool eines Bestandes ändert sich schließlich, wenn nur größere Fische entnommen werden. Langfristig sinkt die durchschnittliche Größe der Fische. Das wiederum wirkt sich auf die Erträge aus, schließlich erzielen kleinere Fische geringere Marktpreise.

Die Kieler können hier inzwischen Politikern und Fachbeamten ganzheitliche Antworten geben – in diesem konkreten Fall etwa zur Regulierung des Fischereimanagements und der Maschengröße von Fischnetzen. „Wir weisen mit unserer Arbeit der Politik Handlungsoptionen auf“, sagt Cluster-Sprecher Visbeck.

Inzwischen hat auch in der Wissenschaft ein Wandel stattgefunden, glaubt Visbeck. Die Berührungsängste der Wissenschaft mit der Politik seien inzwischen überwunden. Visbeck ist es wichtig, relevante Forschung zu betreiben.

Ohne Probleme würde er sich daher inzwischen mit Politikern, Greenpeace und dem Verband der Deutschen Hochseefischerei an einen Tisch setzen und fragen: Was interessiert Euch? Die Antworten können die Kieler Fischereispezialisten geben. Sie arbeiten wissenschaftlich unabhängig – aber politisch relevant.

Beitrag von Marlies Uken, IJP Stipendiatin 2012

Der Beitrag ist ein Artikel aus dem Jahresbericht 2011/2012 des Exzellenzclusters Future Ocean