30. September 2020 Tiefbohrung im ältesten und artenreichsten See Europas liefert neue Erkenntnisse zur Evolution



Kieler Geophysiker an internationaler Studie am Ohrid-See beteiligt

Je älter und stabiler ein Ökosystem ist, umso langlebiger sind die dort lebenden Arten und umso beständiger die Artengemeinschaften. Diese neuen Erkenntnisse zur Evolution konnte ein internationales Forscherteam, unter Leitung der Universitäten Gießen und Köln und unter Beteiligung der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU), mit Hilfe einer Tiefbohrung im Ohrid-See gewinnen und in der Fachzeitschrift Science Advances veröffentlichen.

 

Der 1,4 Millionen Jahre alte See an der Grenze zwischen Albanien und Nordmazedonien ist nicht nur der derzeit älteste, sondern mit mehr als 300 nur dort vorkommenden, sogenannten endemischen Spezies auch der artenreichste See in Europa. Um die Evolutionsereignisse seit der Entstehung des Sees zu untersuchen, kombinierten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Umwelt- und Klimadaten eines 568 Meter langen Sedimentkerns mit den darin enthaltenen Fossilbelegen von über 150 endemischen Kieselalgenarten. Dabei zeigte sich, dass kurz nach der Bildung des Sees neue Arten innerhalb von wenigen tausend Jahren entstanden. Viele von ihnen starben aber in dem verhältnismäßig kleinen und flachen See auch sehr schnell wieder aus. Das Forschungsteam erklärt dies damit, dass junge Seen von geringer Größe viele neue ökologische Möglichkeiten bieten, aber auch besonders sensibel auf Umwelteinflüsse wie Temperatur-, Seespiegel- und Nährstoffschwankungen reagieren.

Nachdem der See tiefer und größer wurde, verlangsamten sich die Artbildungs- und Aussterbeprozesse drastisch. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler führen dies darauf zurück, dass weniger neue Habitate entstanden, der Artenreichtum sich einer ökologischen Kapazitätsgrenze annäherte und der See die Umwelteinflüsse besser abfedern konnte. Die Erkenntnis, dass sich im Laufe der Entwicklung des Ohrid-Sees eine dynamische Ansammlung von evolutionär kurzlebigen Arten in eine stabile Gemeinschaft langlebiger Arten wandelt, liefert ein neues Verständnis der evolutionären Dynamik in Ökosystemen. Die Studie wird damit auch eine große Bedeutung für die künftige Biodiversitätsforschung haben.

Zur Realisierung derartig umfangreicher Bohrprojekte sind geophysikalische Vorerkundungen zwingend erforderlich. Diese wurden von Forschenden des Instituts für Geowissenschaften an der Uni Kiel auf dem Ohrid-See mit einem für See-Messungen optimierten seismischen System durchgeführt. „Mit unseren seismischen Arbeiten haben wir erfolgreich die entscheidenden Stellen für die Bohrungen identifizieren können, an denen dann die biologischen Untersuchungen durchgeführt wurden," sagt Professor Sebastian Krastel, Co-Autor der Studie und Leiter der Arbeitsgruppe Marine Geophysik und Hydroakustik am Institut für Geowissenschaften an der Universität Kiel. „Wir arbeiten viel in multidisziplinären Teams, aber die Zusammenarbeit mit Evolutionsbiologen an so einem zentralen See war außergewöhnlich."

Originalpublikation
Wilke et al. (2020): Deep drilling reveals massive shifts in evolutionary dynamics after formation of ancient ecosystem. Science Advances, 6, no. 40, eabb2943. DOI: 10.1126/sciadv.abb2943

Link zur Studie:
https://advances.sciencemag.org/content/6/40/eabb2943

Kontakt

Prof. Dr. Sebastian Krastel
Institut für Geowissenschaften
Telefon: +49 431 880-3914
sebastian.krastel@ifg.uni-kiel.de