17. März 2021 Meeresspiegelanstieg für weltweite Küstenregionen höher als bisher angenommen



Internationale Studie mit Kieler Beteiligung analysiert erstmals Zusammenhang zwischen globalem Meeresspiegelanstieg und Landabsenkung in Küstenregionen

Küstenbewohnerinnen und -bewohner erleben weltweit einen relativen Anstieg des Meeresspiegels, der bis zu viermal so hoch ist wie der globale Durchschnitt – so das Ergebnis einer neuen internationalen Studie der Universität von East Anglia in Norfolk (UK) mit Beteiligung der Arbeitsgruppe Meeresspiegelanstieg und Küstenrisiken des Geographischen Instituts der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU). Die Studie, die am 8. März in der Fachzeitschrift Nature Climate Change veröffentlicht wurde, ist die erste, die den globalen Meeresspiegelanstieg in Verbindung mit Messungen von absinkendem Land analysiert.

 

Bisher wurden die Auswirkungen der Landabsenkung in Zusammenhang mit dem Anstieg des Meeresspiegels eher als lokales Problem betrachtet und weniger als ein globales. Die neue Studie schließt diese Lücke in der Forschung und kann aufzeigen, dass die Bevölkerung an den Küsten weltweit in den vergangenen 20 Jahren mit einem durchschnittlichen Meeresspiegelanstieg von 7,8 mm bis 9,9 mm pro Jahr lebt, verglichen mit einem globalen durchschnittlichen relativen Anstieg von 2,6 mm pro Jahr. Damit sind die Auswirkungen für Städte und Regionen in den besonders gefährdeten Gebieten zukünftig wesentlich größer als bisher angenommen und auch als es die globalen Daten, die das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) veröffentlicht hatte, vermuten ließen. Etwa 58 Prozent der Weltküstenbevölkerung ist davon betroffen. Sie lebt an oder auf Deltas, in denen das Land absinkt.

„Während der klimabedingte Anstieg des Meeresspiegels eine Folge des Abschmelzen der Gletscher und der thermische Ausdehnung des Wassers aufgrund steigender globale Temperaturen ist, werden rasche Senkungsraten in Deltas und vor allem in Städten auf Deltas auch vom Menschen verursacht – meist durch das Abpumpen von Grundwasser, aber auch durch Öl- und Gasförderung oder Sedimentverschiebungen", sagt Erstautor der Studie Robert Nicholls, Professor für Klimaanpassung an der Universität von East Anglia in Großbritannien und Direktor des britischen Tyndall Centre for Climate Change Research.

Das internationale Forscherteam untersuchte in der aktuellen Studie die Auswirkungen des globalen Meeresspiegelanstiegs in Verbindung mit Messungen von Landabsenkung. Dabei bewerteten sie vier Parameter der relativen Meeresspiegelveränderung – die klimabedingte Meeresspiegelveränderung, die Auswirkungen der Abnahme des Landeises, die zu einer Hebung oder Senkung des Landes führen, Schätzungen der Absenkung von Flussdeltas und der Absenkung von Städten. Die Messungen des Meeresspiegels wurden aus Satellitendaten gewonnen. Die Studie verwendet das globale Dynamic and Interactive Vulnerability Assessment (DIVA) Modelling Framework und Daten zur Absenkung für die wichtigsten Flussdeltas und Megastädte der Welt, eine Methode mit der auch die Kieler Geographen und Co-Autoren der Studie Professor Athanasios Vafeidis und Jan-Ludolf Merkens arbeiten.

„Unsere Ergebnisse machen deutlich, dass der mittlere globale Meeresspiegel als Indikator keinesfalls ausreicht, wenn wir das Ausmaß für die Bewohnerinnen und Bewohner an den Küsten abschätzen wollen. Das führen wir vor allem darauf zurück, dass der höchste relative Meeresspiegel, den wir prognostizieren, besonders in dicht besiedelten Küstengebieten auftritt, die damit in weitaus höherem Maß exponiert sind als der globale Mittelwert vermuten lässt", sagt der Kieler Co-Autor der Studie, Professor Athanasios Vafeidis vom Geographischen Institut an der Uni Kiel.
Das Team gewichtete die Ergebnisse nach der Bevölkerungszahl, um die Bedeutung für die Menschen insgesamt in den Küstenregionen darzustellen. Demnach lebt die Küstenbevölkerung mit einem Meeresspiegelanstieg, der drei- bis viermal so hoch ist wie der globale Durchschnitt. Besonders betroffen sind die Küstenländer in Süd-, Südost- und Ostasien, in denen rund 70 Prozent der weltweiten Küstenbewohnerinnen und -bewohner leben. In diesen Regionen befinden sich nicht nur viele absinkende Deltas und küstennahe Gebiete, die von häufigen Überschwemmungen betroffen sind. Hier gibt es auch die meisten Küsten-Megastädte. Betrachtet man einzelne Metropolen, so lässt sich beispielsweise für die Stadt Tokio im Laufe des 20. Jahrhunderts eine Nettosenkung von vier Metern ermitteln. Für Shanghai, Bangkok, New Orleans und Jakarta – ebenfalls besonders exponierte Küstenregionen mit einem hohen Bevölkerungsanteil – liegt die Senkung immer noch zwischen zwei und drei Metern. Gründe liegen für Tokio, Shanghai und Bangkok vor allem in der hohen Grundwasserentnahme. Einmal gestoppt, verringerte sich die Absenkung deutlich. Auch für die besonders gefährdete indonesische Hauptstadt Jakarta, die auf die Insel Borneo verlegt wird, identifizierten die Forschenden eine hohe Grundwasserentnahme bei steigendem Meeresspiegel als Hauptursache für die schnellere Absenkung der Stadt und damit das gestiegene Risiko für die Bevölkerung und Infrastruktur.

Die Ergebnisse der Studie sollen vor allem dazu beitragen, dass für das zukünftige Küstenzonenmanagement sowohl der Meeresspiegelanstieg als auch die Absenkung des Landes in Deltas und niedrig gelegenen Zonen gemeinsam betrachtet werden. „Dazu müssen wir sowohl die globalen Daten als auch die menschlichen Einflussfaktoren, die zu der schnellen Absenkung des Landes an der Küste führen, ständig neu analysieren und gemeinsam mit politischen Entscheidungsträgern die entsprechenden Anpassungsmaßnahmen treffen", sagt Athanasios Vafeidis, der mit seiner Arbeitsgruppe nicht nur die südostasiatischen Regionen, sondern vor allem auch den Mittelmeerraum erforscht.

Die Studie entstand unter der Leitung der Universität von East Anglia (UK) mit dem Global Climate Forum Berlin, der Humboldt-Universität Berlin, der Bournemouth Universität (UK), der Universität Kiel (Deutschland), der Universität Toulouse (Frankreich), der Universität von Southampton (UK) und mit der East China Normal Universität in Shanghai (China) und wurde von der Europäischen Union (Horizon 2020) gefördert.

Über Kiel Marine Science (KMS)
Kiel Marine Science (KMS), das Zentrum für interdisziplinäre Meereswissenschaften an der CAU widmet sich der interdisziplinären Erforschung der Meere an der Schnittstelle von Mensch und Ozean. Dabei bündeln die Forschenden ihre Expertise aus unterschiedlichen natur- und gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen und untersuchen die Risiken und Chancen, die das Meer für den Menschen bereithält und bilden die nächste Generation fachübergreifend aus. Gemeinsam mit Akteuren außerhalb der Wissenschaft arbeiten sie weltweit und transdisziplinär an Lösungen für eine nachhaltige Nutzung und den Schutz des Ozeans.
Zu KMS: www.kms.uni-kiel.de

Originalpublikation
Nicholls, R.J., Lincke, D., Hinkel, J., Brown, Sally, Vafeidis, Athanasios T., Meyssignac, Benoit, Hanson, Susan E., Merkens, Jan-Ludolf, Fang Jiayi, A global analysis of subsidence, relative sea-level change and coastal flood exposure. Nat. Clim. Chang. (2021). https://doi.org/10.1038/s41558-021-00993-z

Fotos stehen zum Download bereit
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Das Hochwasser in der italienischen Lagunenstadt Venedig wie hier im Jahr 2019 entwickelt sich zunehmend zur Bedrohung für Bewohnerinnen und Bewohner sowie die touristische Infrastruktur.
© A. Vafeidis, Uni Kiel

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Die italienische Stadt Venedig leidet immer mehr unter Hochwasser und Überschwemmungen – auch aufgrund des steigenden Meeresspiegels. Das Bild zeigt Aqua Alta im Jahr 2019. © A. Vafeidis, Uni Kiel

Wissenschaftlicher Kontakt
Prof. Dr. Athanasios Vafeidis
Geographisches Institut
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
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Pressekontakt
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