18. September 2017 Das Rätsel der männlichen Schwangerschaft

Grasnadel, Foto: Uli Kunz, www.kunzgalerie.de

Europäischer Forschungsrat fördert GEOMAR-Wissenschaftlerin mit 1,5 Mio Euro

Zellteilung, Eier legen, lebende Junge gebären – die Natur kennt verschiedene Varianten, Nachwuchs auf die Welt zu bringen. Einen im gesamten Tierreich einzigartigen Weg nutzen Seepferdchen und die mit ihnen verwandten Seenadeln: Bei ihnen tragen die Männchen die Jungen bis zur Geburt aus.

Was uns die männliche Schwangerschaft über die Evolution der Brutpflege allgemein verraten kann, daran forscht die Evolutionsbiologin Dr. Olivia Roth vom GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel. Der Europäische Forschungsrat fördert sie jetzt mit einem sogenannten „Starting Grant" in Höhe von 1,5 Millionen Euro über einen Zeitraum von fünf Jahren.

 

Als das Leben auf der Erde seinen Anfang nahm, war die Sache mit der Fortpflanzung noch verhältnismäßig einfach. Die ersten Organismen waren Einzeller, die sich per Zellteilung vermehrten. Später entwickelten sich immer komplexere Lebensformen, die für ihre sexuelle Fortpflanzung männliche und weibliche Individuen benötigten. Dabei ergab sich ein Problem: Die empfindlichen Embryonen waren und sind zunächst nur in einer geschützten Umgebung lebensfähig. Für diese frühe Phase bietet die Natur wiederum verschiedene Möglichkeiten: Abgelegte Eier als Schutzraum für den jungen Organismus sind eine, Schwangerschaft ist eine andere. Letztere erfordert umfangreiche Anpassungen des – fast immer – mütterlichen Körpers. Wie es wann und mit welchen Anpassungen zur Evolution der Schwangerschaft kam, ist bei vielen Arten aber noch umstritten.

Die Biologin Dr. Olivia Roth vom GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel versucht einige grundsätzliche Fragen zur Evolution der Schwangerschaft zu beantworten, indem sie die Exoten unter den lebend gebärenden Organismen untersucht: Seenadeln und Seepferdchen. Sie sind die einzigen Gattungen im gesamten Tierreich, bei denen die Männchen den Nachwuchs in ihrem Körper austragen. Für ihre Forschungen gewährt der Europäische Forschungsrat (European Research Council, ERC) ihr jetzt im Rahmen eines begehrten „Starting Grants" eine Förderung von 1,5 Millionen Euro für die kommenden fünf Jahre.

Mit dem Geld kann Dr. Roth ihre Arbeitsgruppe ausbauen und die Forschungen zur männlichen Schwangerschaft bei Seenadeln und Seepferdchen weiter vorantreiben. Ein besonderes Augenmerk richtet das Team dabei auf das Immunsystem der Tiere. „Die körpereigene Immunabwehr ist ein kritischer Punkt bei jeder Schwangerschaft, auch beim Menschen. Grundsätzlich besteht immer die Gefahr, dass der Körper der Mutter das Kind als fremdes organisches Material abstößt, weil es zur Hälfte aus dem genetischen Material des Vaters besteht", erklärt die Biologin. Beim Menschen seien mittlerweile Mechanismen bekannt, die einen Embryo vor dem Immunsystem der Mutter schützten, „bei vielen anderen Arten sind diese Mechanismen aber noch völlig unklar", fährt Dr. Roth fort.

Bei Genom-Untersuchungen an Seenadeln und Seepferdchen hat die in der Schweiz geborene Wissenschaftlerin festgestellt, dass bei diesen Organismen wichtige Teile des Immunsystems komplett fehlen oder nicht funktionstüchtig ist. „Vermutlich ermöglicht dieser Verlust den Männchen, die Eier in ihren Körper aufzunehmen und dort auch zu versorgen", sagt sie.

Spannend ist diese Entdeckung insofern, weil ausgerechnet die verlorenen Gene des Seepferdchen- und Seenadel-Immunsystems bis vor kurzem als Grundeigenschaft aller Wirbeltiere galt. „Ohne die entsprechenden Gene und ihre Funktion galt höher entwickeltes Leben als unmöglich", betont Dr. Roth.

Mit vergleichender Genomik, ergänzt durch Experimente, möchte sie mit ihrem Team in Kollaboration mit dem Centre for Ecological and Evolutionary Synthesis der Universität Oslo in den kommenden Jahren herausfinden, wie sich in Seepferdchen und Seenadeln männliche Schwangerschaft zusammen mit dem Immunsystem und dem Mikrobiom entwickelte und was die genetische Grundlage männlicher Schwangerschaft ist. „Letztendlich wollen wir die Evolution der enormen Vielfalt von Brutpflege endlich verstehen", sagt sie.

GEOMAR-Direktor Prof. Dr. Peter Herzig gratulierte zur Bewilligung des Starting Grants. „Der Wettbewerb um diese Förderung ist wirklich hart und die Forschungsarbeiten von Dr. Roth sind herausragend. Ihr Erfolg ist hoffentlich Ermutigung für viele weitere junge Kolleginnen und Kollegen am GEOMAR."

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